Samstag, 1. Oktober 2016

Neunter Tag Jerusalem

Am Morgen besuche ich die Klagemauer. Es ist Shabbat und viele Juden kommen dorthin, um zu beten, zu singen oder um das Widderhorn zu spielen. Eine jüdische französische Familie feiert Abendmahl. Die Stimmung ist andächtig. Hier beten strenggläubige und reformorientierte Juden am gleichen Ort.
Dann mache ich mich auf zum Ölberg, es geht durch das Zionstor zunächst in den Garten Gethsemane. Schon hier treffe ich auf Busladungen osteuropäischer Christen, die - egal ob römisch-katholisch oder russisch-orthodox - die Eindrücke des Tages bestimmen...
Ich passiere die russisch-orthodoxe Maria-Magdalenen-Kirche und die Dominus-Flevit-Kapelle, die die Stelle markiert, an der Jesus über die Stadt Jerusalem geweint haben soll.
Ich steige den Ölberg entlang dem jüdischen Friedhof hinauf - nach dem Propheten Sacharja wird Gott hier die Toten erlösen, wenn der Messias am Tag des Jüngsten Gerichts zurückkehrt. Daher haben sich bis heute etwa 150.000 Juden hier bestatten lassen.
Ein schmaler Zugang führt zu den Gräbern der Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi - die trotz Shabbat geöffnet sind. Der muslimische Wärter stellt mir persönlich die Grabanlage vor und führt mich einige Meter in vollkommene Dunkelheit. Das friedliche Zusammenleben der Religionen liege ihm am Herzen, daher seien die Gräber geöffnet, so der Wärter. Er benötigt sicher auch die Einnahmen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Bei der muslimischen Himmelfahrtskapelle treffe ich auf eine polnische Nonne, die am Ort der vermuteten Himmelfahrt Christi in der Moschee ein Lied für ihre Gruppe anstimmt - der Wärter kennt sie schon und scherzt, dass sie dafür 300 Schekel bezahlen müsste...
Ursprünglich war dies eine christliche Kapelle, wurde nach der Rückeroberung Jerusalems von den Kreuzfahrern durch Saladin 1198 in eine Moschee umgewandelt. Selbst wenn Jesus Christus nicht als Messias angesehen wird, gilt er Muslimen doch als einen wichtigen Propheten.
Die russisch-orthodoxe Himmelfahrtskapelle oben auf dem Ölberg fasziniert durch ihre klare bildhafte Darstellung des Ereignisses, obwohl mich eine Nonne barsch darauf hinweist, dass ich meine Kopfbedeckung abnehmen müsse. Auch sie soll die Stelle markieren, an der Jesus Christus in den Himmel aufgefahren ist. Als ich aus der Idylle des verschlossenen Kirchenbezirks heraustrete, komme ich in diesen wuseligen Stadtteil Ostjerusalems, der so gar nicht zu meinen Vorstellungen des Ölbergs als biblischem Ort passen will. Dieser widersprüchliche Eindruck verstärkt sich noch durch den Blick, den ich nach Osten habe: Mauern trennen Jerusalem vom Westjordanland.
Auf dem Weg zurück zur Unterkunft treffe ich auf Kinder, die mir auf Nachfrage ein von den Behörden gestörtes Haus zeigen. Diese Art der Bestrafung soll helfen, den Terror von palästinensischer Seite einzudämmen...
Die muslimische Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg - rechts der unvemeidbare Verkaufsstand mit Devotionalien
Ein Fußabdruck Jesu Christi in der muslimischen Himmelfahrtskapelle...
Blick in die Kuppel der russisch-orthodoxen Himmelfahrtskapelle
Russisch-orthodoxe Himmelfahrtskapelle
Blick vom Ölberg nach Osten
Fotografieren gegen Bezahlung, so der Wunsch dieser Jungs
Zerstörtes Haus an der Straße vom Ölberg zur Altstadt
Blick vom Ölberg auf die Altstadt: im Vordergrund ist der größte jüdische Friedhof der Stadt zu sehen

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